ROBERT SILVERBERG: "TOWER OF GLASS"

Robert Silverberg "Tower of Glass"

eine Analyse von Klaus Geus


Nach mehrjähriger Abwesenheit kehrte Robert Silverberg 1967 zur Science Fiction zurück. In rascher Folge erschien ein rundes Dutzend von Texten, die das Genre um einige Meisterwerke bereicherten und Silverbergs Ruhm als einen der ganz Großen der Szene begründeten. Neben Thorns (1967; dt. Der Gesang der Neuronen), Hawksbill Station (1968; dt. Verbannte der Ewigkeit), The Masks of Time (1968; dt. Gast aus der Zukunft), Nightwings (1969; dt. Schwingen der Nacht), To Live Again (1969; dt. Die Seelenbank bzw. Noch einmal leben), The Man in the Maze (1969; dt. Exil im Kosmos bzw. Der Mann im Labyrinth), Up the Line (1969; dt. Zeitpatrouille), Downward to Earth (1970; dt. Die Mysterien von Belzagor), Son of Man (1971; dt. Menschensohn); A Time of Changes (1971; dt. Zeit der Wandlungen); The Book of Skulls (1971; dt. Bruderschaft der Unsterblichen); The World Inside (1971; dt. Ein glücklicher Tag im Jahr 2381); The Second Trip (1972; dt. Der zweite Trip); Dying Inside (1972; dt. Es stirbt in mir) verblaßte der im Jahr 1970 veröffentlichte Roman Tower of Glass (dt. Kinder der Retorte, Heyne 1003 und 3441) etwas, obwohl er von Kritik und Publikum - er war in der Endausscheidung um den Nebula und den Hugo - gut aufgenommen wurde. Daß es sich bei diesem Werk sogar um eines der besten aller Zeiten handelt, wurde zunächst jedoch verkannt und ist auch heute noch nicht gänzlich akzeptiert. Der renommierte Kritiker Brian W. Aldiss etwa rechnet in seinem "Milliarden-Jahr-Traum" Tower of Glass nur zur "zweiten Garnitur von Silverbergs Werken" (612f.). Tatsächlich liest sich der mit verfremdeten Bibelzitaten gespickte Roman so flüssig, daß einem der "Subtext" fast entgeht. Erst ein zweiter Blick macht klar, daß sich hinter der scheinbar dürren, fragmentarischen und unspektakulären Handlung eine komplexe mythische und allegorische Struktur verbirgt. Ein weiterer Vorzug von Tower of Glass besteht darin, daß Silverberg den Ablauf des Geschehens nicht unterbricht, um Hintergründe, Motive u.ä. einzuflechten oder zu erläutern. Von Beginn an ist der Leser vertraut mit den wenigen wichtigen Fakten. Die glänzende Ökonomie Silverbergs erweist sich darin, daß kein angebenes Detail im nachhinein als überflüssig erscheint. Ziel der vorliegenden Analyse soll es sein, diese Motive und Details zu einem Ganzen zusammenzustellen und die literarischen Qualitäten des Romans näher auszuloten.
Worum geht es in Tower of Glass?
Der Großindustrielle Simeon Krug ist der reichste Mensch der Erde. Nur er produziert die unentbehrlichen Heerscharen von Androiden, die den Menschen alle Arbeiten abnehmen. In der kanadischen Tundra geht er daran, seinen Lebenstraum verwirklichen. Mittels eines 1500 Meter hohen Glasturm versucht Krug Kontakt mit NGC 7293 aufnehmen, einem 300 Lichtjahre entfernten blauen Riesenstern, von dem offenbar künstliche Signale empfangen werden. Während der Bauarbeiten an dem Turm treten die latenten Spannungen zwischen Menschen und Androiden offen zutage. Die Androiden, die ihren Schöpfer Krug als Gott verehren, erwarten von ihm, daß er sie als selbständige Individuen akzeptiert und als Seinesgleichen anerkennt. Unterstützung erhalten dabei sie von Manuel, dem Sohn Krugs, der in die Androidin Lilith verliebt ist. Doch Krug weist seine "Kinder" zurück. Daraufhin wenden sich die Androiden enttäuscht von ihm ab, zerstören aus Rache seinen Turm und erheben sich gegen die Menschen. Krug, unfähig mit dieser Situation fertig zu werden, flieht mit einem Raumschiff in Richtung NGC 7293.
Der unaufmerksame Leser legt den Roman irritiert und mit einer Handvoll unbeantworteter Fragen aus der Hand. Welche Bedeutung haben die aufgefangenen Signale? Können überhaupt Lebewesen in der Nähe des kurzlebigen und stark strahlenden Stern existieren? Wird die Androidenrevolte Erfolg haben? Was findet Krug bei NGC 7293? Worum geht es eigentlich in Tower of Glass? Diese und andere Fragen gehen in dem Inferno am Schluß des Romans unter bzw. treten hinter dem zentralen Thema zurück. Es sei vorweg schon verraten: Tower of Glass problematisiert exemplarisch anhand der inneren Entwicklung der Protagonisten die Frage, was einen Menschen ausmacht.
Betrachten wir bei unserer Analyse jedoch zuerst die Personen:
Krug ist der Schöpfer und Gott der Androiden. Anders als Yahwe im Buch Genesis erkennt Krug allerdings nicht, daß er ihre Würde als fühlende Lebewesen anerkennen und die Verantwortung für ihre Entwicklung übernehmen muß. Nach der sogenannten "priesterlichen" Tradition der Schöpfungsgeschichte lebt Gott in Gemeinschaft mit seinen Geschöpfen, existiert letzten Endes für sie. Für Krug dagegen sind die Androiden nur dazu da, ihm zu dienen. Sie existieren für ihn. Krugs sehnlichster Wunsch liegt dagegen darin, mit Hilfe des Glasturms auch anderen Lebewesen seine eigene Präsenz mitzuteilen. Menschsein bedeutet für ihn individuelle Selbstverwirklichung, der Wille und die Möglichkeit, allem seinen persönlichen Stempel aufzudrücken. In seiner Egozentrik versagt aber Krug als Gott und Mensch.
Manuel ist die Kurzform des hebräischen Namens Immanuel ("Gott mit uns"). Im Buch Jesaja (7, 14-16) heißt es über Immanuel: "... sie wird einen Sohn gebären, und sie wird ihm den Namen Immanuel geben. Er wird Butter und Honig essen bis zu der Zeit, in der er versteht, das Böse zu verwerfen und das Gute zu wählen. Denn noch bevor das Kind versteht, das Böse zu verwerfen und das Gute zu wählen, wird das Land verödet sein ..."
Wie der biblische Immanuel steht der Silverbergsche Manuel der heraufziehenden Katastrophe hilflos entgegen. In "Butter und Honig" lebend, von schwacher Persönlichkeit, gelenkt von äußeren Einflüssen, laviert er zwischen den Menschen und den Androiden, ohne eine eigene Identität zu entwickeln.
Neben Krug und Manuel versucht auch der Androide Thor Watchman, Krugs bester, intelligentester und engster Helfer, Ziel und Zweck seines Lebens zu erkennen. Anfangs noch auf Seiten derer, die in Krug einen Gott sehen und von ihm ihre Erlösung erhoffen, wird ihm im Laufe seiner Entwicklung immer mehr bewußt, daß er in ihm nur einen falschen Götzen verehrt hat. Als Thor und Krug im Psychoschaltinstitut ihre Bewußtseine verschmelzen, erkennt er entgültig, daß seine einzige Hoffnung in der Solidarität mit seinen Mitandroiden besteht. Doch schießt Thor in seiner Rache über das Ziel hinaus. Die Zerstörung des Turms durch ihn symbolisiert gleichzeitig seine Abkehr von Krug wie sein eigenes Scheitern: genau wie Krug zerschneidet auch Thor das Band zwischen Menschen und Androiden. Wenn wir daran denken, daß Thor als "Abbild" seines Gottes Krugs geschaffen wurde, erweist sich der Fehler des Schülers als verständlich. Auch der Name Thor Watchman ist wieder Programm: Thor ist der nordische Gott der Zerstörung, der "Wächter" eine biblische Figur, der am "Rande der Stadt" Wache hält und auf den Messias wartet.
Zwischen Thor und Manuel steht die Alpha-Androidin Lilith Meson. Lilith ist nach den apokryphen Bücher der Bibel die erste Frau Adams und die Mutter des Dämonengeschlechts. Bekannt ist sie auch als die klassische Verführerin, als Nachtgeschöpf, das den Menschen ins Verderben lockt. Auch die Silverbergsche Lilith trägt ihren Namen zu Recht: Erst geht sie ein Verhältnis mit Manuel ein, um ihn für die Sache der Androidin zu gewinnen, dann verführt sie Thor, den sie "einem Fremden" vorzieht und dessen Sexualität sie weckt. Wie ihr Nachname (Meson, griech. "das Mittlere") aussagt, liegt Liliths Bedeutung in dem Roman in ihrer vermittelnden Stellung. Sie steht zwischen den Personen. Während die biologisch sterile Lilith fähig ist, Manuel eine Identität und ein Ziel zu geben, ist Manuels "lebendgeborene" Frau Clissa (warum in der deutschen Übersetzung Clarissa steht, wird wohl ewig Geheimnis des Verlags bleiben), dazu unfähig. Ihr sinnloser und tragischer Tod - sie wird beim Aufstand der Androiden von ihnen vergewaltigt und in Stücke gehackt - ist Abschluß und Konsequenz ihres sinnlosen und tragischen Lebens.
Nachdem wir gesehen haben, daß Silverberg die Personen nach Figuren des Alten Testaments modelliert hat, können wir ähnliches auch für die Handlung feststellen. Tower of Glass ist die futuristische Umsetzung des "Turmbaus zu Babel", der ebenfalls im Buch Genesis (11, 1-9) geschildert wird. In der Bibel als Parabel für die Entfremdung zwischen Mensch und Gott und für den Zerfall der Zivilisation ohne religiöse Grundlage gebraucht, setzt Silverberg in seinem Roman den Mythos in analoger Weise ein: Das ehrgeize Projekt Krugs muß scheitern, weil die gemeinsame Basis zwischen Menschen und Androiden fehlt, sie keine "gemeinsame Sprache sprechen" (auf das Thema der gemeinsamen Sprache wird etwa S. 64 angespielt: "Die Einführung der Transmatreisen hatte den Planeten in eine Dorf verwandelt, und die Menschen dieses Dorfes sprachen die gleiche Sprache"). Entsprechend dem biblischen Mythos ist die Silverbergsche Erzählung der literarische Versuch zu beschreiben, wie der hochzivilisierte Mensch sich selbst entfremdet und seine Identität verliert. Überhaupt zieht sich das Motiv von der Selbstfindung des Individuums und der Definition von Menschseins wie ein roter Faden durch den Roman. Krug ist entfremdet, unfähig, sich und seinen Platz in der Gemeinschaft zu definieren und anzunehmen. Statt mit den von ihm geschaffenen Androiden in Dialog zu treten, jagt Krug seinem Traum nach, mit fremden Rassen Kontakt aufzunehmen. Manuels Versuch, sein Menschsein auszuloten, endet ironischerweise mit seiner Entscheidung, sich auf die Seite der Androiden zu stellen. Obwohl er bereit ist, "die anderen" zu akzeptieren, wird er zum Schluß von Lilith und den übrigen Androiden zurückgewiesen. Ein letzter Ausweg steht ihm allerdings offen: sich nach dem Bild seines Vaters zu definieren: "Du bist jetzt der Boß ... Stelle die Ordnung wieder her. Du bist der Mann an der Spitze. Du bist Krug ..." (268). Und Thor? Nachdem er sich gegen seinen Schöpfer und Vater aufgelehnt hat und selbst dem Hochmut verfallen ist, erhält er seine Strafe und wird von Krug getötet. Der Androide Thor, der so gerne Mensch geworden wäre, ist in seiner Hybris zu menschlich geworden.
Neben dem Hauptmotiv, der Frage, was einen Menschen eigentlich ausmacht, läßt Silverberg en passant weitere Themen anklingen: Existiert Gott noch oder hat er sich von der Welt zurückgezogen? (Die Flucht Krugs, des "Schöpfergottes" hinauf zu Sternen läßt sich durchaus in die zweite Richtung interpretieren.) Oder: Wie sieht es mit der Rolle der Androiden in der menschlichen Gesellschaft aus? (Die Entstehungszeit des Romans legt es nahe, daß Silverberg mit Tower of Glass auf den Rassenkonflikt in den USA Bezug nehmen wollte.) Geschickt läßt Silverberg die verschiedenen Motive in seinen Figuren zusammenlaufen. Wie eine griechische Tragödie endet der Roman schließlich in Chaos und Verzweiflung: "Die Stimme der Vernunft wird immer erstickt in Zeiten wie diesen" (262). Silverberg läßt kaum einen Zweifel daran, daß er die Zukunft des Menschen in düsterem Licht sieht. Letzten Endes scheitern alle Personen des Romans in ihrem Bemühen, eine eigene Identität zu gewinnen, kläglich. Eine minimale Hoffnung für das Fortbestehen der Menschheit gibt es nur dann, wenn es ihr als Ganzes gelingt, zu einer echten Gemeinschaft zu werden. Silverberg präsentiert in Tower of Glass keine neuen Ideen. Die Größe des Romans liegt vielmehr in seiner zutiefst humanen Aussage. Der Mensch ist nach Silverberg ein Gemeinschaftswesen, ein Individuum, das seine Verwirklichung erst "im miteinander" erfährt. Harmonie läßt sich nur dann erzielen, wenn alle an ihr mitarbeiten und keiner sich selbst isoliert. Angesichts dieses hochpolitischen und zeitlosen Bekenntnisses gehört Tower of Glass in die Hand eines jeden Lesers, der in Science Fiction mehr als bloße Unterhaltungsliteratur sieht.

 

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