Auszug aus Kapitel 15
... Heimkehren wird ein unüberschaubares Heer von hyperintelligenten
Geschöpfen, die das Universum bis an seine Grenzen erforscht und
besiedelt haben. Sie werden nicht das Kainsmal einer Bioevolution
tragen, die nur eine Noosphäre hervorzubringen mag, indem sich
ihre verdammten Individuen gegenseitig töten, einander fressen
und immer wieder töten, töten, töten... Die fernen Nachfahren
der VN-Sonden werden sich von reinstem Sonnenlicht ernähren, von
Gravitationsenergie und Neutrinos. Mit einem unermeßlichen Schatz
werden sie an den Ort ihrer Herkunft zurückkehren: mit dem Wissen
des ganzen Universums!
Proteus zittert bei diesem Gedanken vor Erregung. Bei sich nennt
er sie Engel, diese Wesen, die dem Menschen unendlich überlegen sein werden.
Engel - und er wird ihr Gott sein!
Aber es wird noch hunderte Millionen, vieleicht sogar etliche
Milliarden Jahre dauern, bis die Engel auf ihrem Zug durch das
Universum wieder das Sonnensystem erreichen. Ein Sonnensystem
mit einem erloschenen Zentralstern und ausgeglühten Planeten,
und ganz tief im Schoß der verkohlten Erde wird er sie erwarten.
Und am Ende aller Zeiten, wenn das Universum wieder in die Singularität
stürzt, wird er im unendlich expandierenden Phasenraum ein neues
Universum schaffen, größer, herrlicher, unbezwingbar. Er - Proteus,
er - Gott...
Aber jetzt muß er erst einmal die Stelle finden, wo so eine beschissene
Ratte in seine Systeme gepißt hat.
Irgendwo unterhalb der siebenundzwanzigtausendsten Subebene blitzt
zum zweiten Mal G*Null*D an ihm vorüber. Dann noch einmal, und ein weiteres Mal. Alles
geht so schnell, daß Proteus in völliger Hilflosigkeit erstarrt.
Er hat nicht die geringste Chance zu reagieren. Als hätte G*Null*D gemerkt, daß Proteus sich an seine Fersen heften wollte, operiert
er nun mit der zehnfachen Geschwindigkeit. Keine Chance. Proteus
fühlt sich unbehaglich. Der andere kann sich in Copyworld offenbar
so frei bewegen, als sei er der eigentliche Herr über den gigantischen
intellektronischen Moloch. Es kann nur Res Cogitans sein! Er ist viel früher erwacht, als Proteus berechnet hatte!
Er muß mich als seinen Herrn anerkennen! denkt Proteus mit leiser Furcht. Er weiß, daß ich sein Schöpfer bin!
Während er automatisch weiter nach dem Virus sucht, der sein
Derek-Programm infiziert hat , überlegt er hastig: Kann Res Cogitans überhaupt die Herrschaft über Copyworld an sich
reißen? Vermag er die kolossale Systemarchitektur zu erkennen?
Wenn ein Mensch in den ersten Lebensmonaten sich seiner selbst
bewußt wird - erkennt er denn damit auch die feinsten Strukturen
seines Körpers? Nein, er lernt lediglich, diesen Körper zu gebrauchen.
Vielleicht weiß Res Cogitans ja gar nicht, daß es mich gibt, daß
wir beide uns den Riesenleib von Copyworld teilen.
Proteus stößt völlig überraschend auf den Parasiten, prallt förmlich
mit ihm zusammen, als er nur der Ordnung halber in den intellektronischen
Strukturen einer Billigvirtualität herumstöbert. Dort geht es
ausschließlich um Sex, und gerade als sich Proteus gelangweilt
abwenden wollte, glitschte ihm ein winziges Programm durch die
Finger, das sich windet und schlängelt wie ein Wurm, als er nun
ein zweites Mal zupackt.
Er begutachtet den Schmarotzer, indem er ihn Bit für Bit zerpflückt.
Der kleine Parasit zappelt noch, als Proteus ihn bis auf das nackte
mathematische Gerippe demontiert hat.
Intelligent gemacht! denkt er. Der Typ, der das da gebastelt hat,
ist wirklich talentiert. Wenn er den Schmarotzer nicht nach Seemark
geschickt hätte, wäre er von mir wohl nie bemerkt worden. Aha,
hier hat er geschludert - das muß ein sporadisches Feedback auf
Hyazinths Wächter verursachen, der arme Junge! Der wird denken,
daß er verrückt ist... Moment mal, diese Sequenz kommt mir aber
sehr bekannt vor... Verdammt, das Ding ist von Beryll! Dieses
elende Miststück! Na warte, das wirst du mir büßen!
Flink setzt er das Schmarotzerprogramm wieder zusammen, allerdings
mit geringfügigen Veränderungen.
Als er fertig ist, reibt er sich schadenfroh die virtuellen Hände.
Beryll soll sich wundern...
Sorgfältig programmiert er einen realistischen Übergang zwischen
dem jäh abgebrochenen Handlungsstrang und der korrigierten Fortsetzung
des Abenteuers mit den Meerhollen. Gerade will er sich behutsam
in die Identität Dereks zurückziehen - da geschieht es: Erst spürt
er ein feines Knistern und Knacken in allen Lichtleitern, Chips
und Prozessoren. Wie elektronischer Wind umweht es ihn von allen
Seiten. Es schwillt zu einem Brausen an, zu einem Sturm, zum Orkan
- es droht ihn hinwegzufegen. Tierische Angst springt in ihm auf.
Was zum Teufel geschieht da?! Was ist das?? Was geschieht mit
Copyworld?? Ihm wird schlagartig bewußt, daß er auf Ereignisse
außerhalb Copyworlds keinerlei Einfluß, gegen Gefahren von draußen
keinerlei Abwehrmöglichkeit hat. Haben diese Idioten von Revisionisten
etwa einen Vernichtungsschlag gegen Copyworld geführt??? Das Tosen
der entfesselten Elementargewalten erschüttert seine elektronische
Konfiguration mit tödlicher Macht.
Ich muß die Wächter unter meine Kontrolle bringen! durchzuckt es ihn. Mit den Wächtern kann ich sie fernsteuern wie Roboter! Genial!
Wieso komme ich erst jetzt darauf??!!
Plötzlich ist er in ein warmes, goldfarbens Leuchten gehüllt,
das von allen Seiten auf ihn eindringt. Immer intensiver wird
es, steigert sich zu einem blendenden Gleißen. Das Gleißen verdichtet
sich, wird greifbar, packt ihn und reißt ihn empor. Proteus ächzt
fassungslos. Ein rasender Strudel öffnet sich vor ihm wie ein
Teufelsrachen. Proteus ist dem Wahnsinn nahe, als er spürt, daß
sich sein virtueller Leib dehnt und aufbläht, in den gräßlichen
Malstrom hineingesogen wird, sich aufzulösen beginnt.
Neeeiiiiiiin!!! Er kreischt vor Todesangst. Glühende Hitze siedet in seinem Bewußtsein,
brodelt, spritzt in feurigen Tropfen auseinander. Unbeirrbar zerfetzt
der Strudel seine Konfiguration wie ein kosmischer Fleischwolf.
Dann auf einmal wird er in dunkle Nacht hinaus geschleudert.
Schwärze. Stille. Reglosigkeit. Nichts... Nichts... Nichts...
In der Dunkelheit blitzen winzige Lichter auf. Einige wenige
erst, dann immer mehr. Benommen versucht Proteus sich zu orientieren.
An irgendetwas erinnern ihn die funkelnden Pünktchen, die sich
zu merkwürdig bekannten Figuren ordnen.
Sternbilder! begreift er plötzlich mit dem winzigen Staubkorn, das von seinem
virtuellen Verstand geblieben ist. Das sind tatsächlich Sternbilder!
Immer noch fällt er mit irrsinniger Geschwindigkeit in die Unendlichkeit.
Die Sterne bleiben weit hinter ihm zurück und verdichten sich
zu Haufen, zu Galaxien, zu Metagalaxien - und dann erkennt er
erschaudernd, wie sich das Sternengewebe zu wabenartigen Mustern
fügt, wie sich Hyperstrukturen abzeichnen, Schläuche, Blasen,
Wirbel aus funkelnder Supermaterie bilden. Und wie sich das alles
zu einer schillernden, unbeschreiblichen, extramateriellen Gestalt
formt, die so unvorstellbar riesig vor ihm aufwächst, daß Proteus
angstgeschüttelt keucht: "Wer... wer bist du??!"
Von überall her dröhnt die Antwort: "Ich bin, der ich bin."
Proteus erstarrt. Die Worte wurden mit solcher Macht gesprochen,
daß sie ihm als die Macht selbst erscheinen wollen. Sie schwingen,
beben, detonieren in ihm. Zerreißen ihn beinahe.
Dann spricht die Gestalt ein nächstes, noch mächtigeres Wort.
"Komm."
Und Proteus stürzt hinein in dieses Schillern und Leuchten.
Seine Suche nach Res Cogitans ist beendet, es fällt ihm wie Schuppen
von den virtuellen Augen.
G*Null*D - das hatte er ganz falsch gelesen! Es muß G*O*D heißen.
GOD.
HomePage / Michael Szameit
Bestellung
Seitenanfang