Na endlich!
Kirill Bulytschow: Überlebende
(Heyne 06/5371)
gelesen von Peter Schünemann
Als ehemaliger DDR-SF-Leser (noch dazu ohne West-Buch-Kontakte) kenne ich
Kirill Bulytschow schon seit 15 Jahren; viele seiner Werke erschienen seinerzeit
"bei uns" - man denke nur an "Ein Takan für die Kinder
der Erde", wo sich eher traditionelle Phantastik mit Skurril-Anmutigem
mischt, oder an die vielen Erzählungen (fast jeder Sammelband sowjetischer
SF enthielt eine); auch die Kinderbücher um Alissa habe ich recht gern
gelesen. Und 1986 kaufte ich die Erzählung "Der Gebirgspaß",
die damals in der Kleinen Reihe des DNB-Verlags erschien. Sie gefiel mir
von allen Werken Bulytschows am besten und überlebte sämtliche
"Ausholzungen" in meinem Bücherschrank. Wer sich erinnert:
Eine kleine Gruppe von Menschen lebt nach dem Absturz ihres Raumschiffes
schon 16 Erdenjahre auf einem ziemlich ungemütlichen Planeten; dort
dauert ein Jahr allerdings drei von unseren, und die Winter sind um die
400 Tage lang. So haben sie nur einmal in drei Erdenjahren Zugang zu ihrem
Schiff in den Bergen, das sie nach dem Absturz fluchtartig verlassen mußten
(Strahlung); aber von drei bisher unternommenen Expeditionen hat es noch
keine geschafft. Endlich jedoch, im vierten Anlauf, erreichen Marianne,
Oleg und Dick das Schiff. Sie sind Vertreter der heranwachsenden Generation
und schon typische "Eingeborene": Die Erwachsenen würden
in den merkwürdigen "Wäldern" um die Siedlung keinen
Tag überleben; Dick aber ist der beste Jäger der Gruppe und der
Typ des "neuen" Menschen, welcher mit der gefährlichen Umwelt
am besten zurechtkommt - allerdings um den Preis des langsamen Ablösens
von dem, was man traditionell unter einem Menschen, dem Vertreter uralter
irdischer Kultur, versteht. Marianne, die sogar bereits auf dem Planeten
geboren wurde, kennt sich bestens mit Pflanzen und Heilkräutern aus;
und auch Oleg, wie Dick beim Absturz gerade einmal zwei Jahre alt, findet
sich zur Not zurecht. Doch gerade in ihn setzt der "Alte", das
geistige Oberhaupt der kleinen Gruppe, seine Hoffnung, denn Oleg ist noch
am stärksten der irdischen Zivilisation verhaftet. Die Erzählung
schildert den gefahrvollen Weg der drei jungen Leute zum Schiff. Thomas,
ihr Mentor aus der "alten" Generation, stirbt unterwegs; aber
sie gelangen ans Ziel, beladen sich mit dringend nötigen Dingen und
kehren dann wieder zur Siedlung zurück. Zumindest für Oleg soll
das keineswegs der letzte Besuch gewesen sein, denn für ihn ist die
frühere Welt der Eltern, ist das Band zur fernen Erde nun endgültig
Realität geworden.
Tja, und damit endet "Der Gebirgspaß". Ich fand das damals
eigentlich schade; mich hätte brennend interessiert, ob und wie es
weitergeht. Andererseits nahm ich an, Bulytschow habe den offenen Schluß
beabsichtigt, denn die Erzählung ist homogen, und gerade dieses Ende
macht auch einigen Reiz aus, versetzte das Büchlein in die Reihe ungewöhnlicher
Geschichten. Darüber hinaus gefiel mir, daß es im typisch russischem
Stil erzählt war (fragt mich aber jetzt nicht, worin der besteht, das
kann ich nicht beschreiben - doch ich finde ihn stark).
So behielt ich Bulytschow also in allerbester Erinnerung. Drei Jahre später
brach die DDR zusammen, und das hatte neben vielen - guten, weniger guten
und schlechten - Wirkungen auch den (eindeutig schlechten) Effekt, daß
hochwertige sowjetisch-russische SF nicht mehr so einfach an die Leser gelangte
wie früher. Ja, man konnte jetzt endlich all die verbotenen Bücher
der Strugazkis und Samjatins "Wir" undundund kaufen, doch ansonsten
kam nicht viel Neues nach, denn der Markt erweist sich als der strengste
Zensor (seine menschlichen Kollegen können irren - die Bilanzen irren
nie). Da ist es schon gut, daß es einen Verlag wie Heyne gibt, der
einerseits zwar genügend verkaufsträchtige Trivialitäten
auf den Markt bringt, damit andererseits aber auch die kleinen Auflagen
guter, anspruchsvoller Autoren finanzieren kann, die - leider - Minusgeschäfte
sind. Und so entdeckte ich einen neuen Bulytschow im Katalog und griff natürlich
gleich zu. Meine Freude über die Neuerwerbung jedoch wuchs , als ich
entdeckte, daß der erste Teil des Buches nichts anderes als "Der
Gebirgspaß" ist, sein zweiter die Geschichte aber fortschreibt!
"Pereval" kam in der SU nämlich 1983 und dann 1986 in der
DDR heraus, und erst 1988 publizierte Igor Moshejko (alias K. B.) die Fortsetzung;
beides zusammen erschien unter dem Titel "Posjolok" ("Die
Siedlung"); hier sind es also "Überlebende" mit
den beiden Teilen "Der Gebirgspaß" und "Überm
Berg". Aljonna Möckels 1986er Übersetzung wurde im wesentlichen
beibehalten, leichte inhaltliche Abweichungen zur russischen End-Edition
brachte man auf den neuesten Stand; "Überm Berg" translatete
Erik Simon, und ich habe keinen Bruch bemerkt, das Buch liest sich wie aus
einem Guß. Der zweite Teil beginnt damit, daß in der Siedlung
nun wieder drei Jahre vergangen sind; heiß diskutiert wird eine neue
Expedition zum Schiff, und Oleg erfindet eigens dafür einen Ballon.
Mehr noch: Er überzeugt alle anderen davon, daß der auch zu bauen
und zu steuern ist; und eines schönen Tages steigen der Junge und Sergejew
von den "Alten" endlich über die dicke Wolkendecke auf, die
den Überlebenden den Blick zum Himmel versperrt. Da aber machen sie
eine unerwartete Entdeckung, die alle Pläne über den Haufen wirft
...
Es bleibt spannend bis zum Schluß, kann ich euch sagen. An einer Stelle
war ich so genervt, daß ich sogar hinten nachschaute, wie es ausgeht
- habe ich seit ewigen Zeiten nicht mehr gemacht. Und trotzdem ich es dann
wußte, las und las ich ... Hier ist alles, was gute SF braucht: eine
ungewöhnliche Situation mit ungewöhnlichen, genau gezeichneten
Charakteren, die nicht Schemen bleiben, sondern eigenwillige Gesichter erhalten;
es gibt Spannung, Abenteuer, Situationen, wo alles auf der Kippe steht;
und da man bei Bulytschow immer mit Überraschungen rechnen muß,
ist nichts sicher, auch nicht das Happy-end. Außerdem tritt gelegentlich
hinter den Figuren der Autor hervor und würzt seine Geschichte mit
philosophischen Überlegungen, zur Überzivilisation zum Beispiel
oder zum Humor: "Pawlytsch [...] sinnierte darüber, daß
das Kriterium für den Zivilisationsgrad einer Welt eben der Sinn für
Humor sein muß. Gelegentlich kann auch ein Menschenaffe lachen, doch
es bedarf einer hinreichend entwickelten Sprachfähigkeit, um einen
Witz zu erzählen und die lachenden Gesichter der Gesprächspartner
zu sehen. Hier aber kam einfach absolut nichts Komisches vor. Wenn man sich
gehen ließ, witzig sein wollte, wurde man aufgefressen." (S.
275) Interessanter Gedanke - sofort aber wieder fest mit der Handlung verbunden.
So muß man's machen.
Also, ich bin begeistert von diesem Buch. Wenn man wieder einmal so etwas
in die Finger bekommt, merkt man erst richtig, was für einen Schwachsinn
anglo-amerikanischer Prägung man bisweilen in sich reinschaufelt. Für
mich ist Bulytschows "Überlebende" ein Fingerzeig, wieder
mal in die alten Bücher hineinzuschauen - und allemal zwei bis vier
Empfehlungen an euch wert .
Posjolok, c by Igor Moshejko, 1983 und 1988, übersetzt von Aljonna
Möckel und Erik Simon, 1995, 445 S., DM 16,90